Sizilien ist anders. Anders als Italien. Die Autorin und waschechte Sizilianerin Cettina Vicenzino will mehr von der Insel, von der Heimat ihrer Familie und von ihrer regionalen Küche erzählen. Mit einem Kochbuch zum Nachreisen führt uns Vicenzino Rezept für Rezept durch sizilianische Kulturlandschaften.
Was Dich hier erwartet
Keine Chance für Sizilien-Klischees
„Falls Sie nur viele Rezepte wollen, kaufen Sie dieses Buch lieber nicht!“, warnt sie gleich zu Anfang. Mit „Sizilien in meiner Küche“ liefert Cettina Vicenzino so viel mehr. Die mehrfach ausgezeichnete Kochbuchautorin, spezialisiert auf die vielfältigen Küchen Italiens, macht mit ihrer Kochkunst – und Kultur – deutlich: keine Chance für Sizilien-Klischees!
Ihr Thema ist die Eigenartigkeit der Insel, ihre kulturhistorischen Wurzeln – das Besondere von Siziliens Speisen und Getränken. Darüber hinaus findet sie, ähnlich der britisch-zypriotischen „Nistisima“ Autorin Georgina Hayden, die wir auf azurgold vorgestellt haben, zur traditionellen Kochkunst in „Mammas“ Restaurant-Küche zurück.
Cettina Vicenzino, Jahrgang 1968, verpasst uns eine Kurz-Lektion: Kultur wird auf der Insel schon seit vielen Jahrhunderten großgeschrieben. Lange Zeit bevor die italienischen „Nordlichter“ ein ähnliches Niveau erreichen. Und deshalb bekommen als erstes die aus dem Norden eins auf‘s Dach! Süditaliener kennen es zur Genüge: das Stereotyp vom „unterentwickelten Süden“ am Tropf des überlegenen italienischen Nordens. Hier bedeutet Sizilien: Mafia, Rückständigkeit und Armut.
Cettina Vicenzinos Kochkunst trifft auf Siziliens Kultur
Dabei ist die Insel reich. Cettina Vicenzino verweist auf das vielfältige kulturhistorische Erbe: auf die griechischen Tempel und die vielen Spuren der Eroberer, von den Phöniziern bis zu den Arabern und anderen Völkern, nicht nur in der Architektur. Und auf Menschen, die – anders als früher – die Insel nicht mehr verlassen, sondern hier Neues probieren. Hat dieses Kochbuch eine Mission, frage ich mich.
Herzstück der sizilianischen Küche: die Aubergine
Sie ist ein Herzstück der sizilianischen Küche: die Aubergine. Erstaunlich in ihrer Vielfalt. 80 Rezepte sollen auf der Insel bekannt sein. Dabei ist die Eierfrucht mit den Arabern aus Indien und China in Sizilien eingewandert.
Allein 14 verschiedene sizilianische Auberginen-Sorten zeigt Vicenzino mit ihren Geschmacks- und Kocheigenschaften. Traditionelle, sorgfältig recherchierte Pasta-Rezepte wie moderne Versionen liefert sie bei den „Primi“ gleich mit.
Ein neues sizilianisches Selbstbewusstsein in der Kochkunst
Cettina Vicenzino nimmt uns mit auf ihrem Weg über die Insel. Sie zeigt neue Gesichter der Inselküche, engagierte Food-Produzenten und Gastgeber:innen. Sie alle pflegen mit Leidenschaft Siziliens Traditionen. Und erproben zeitgemäße Möglichkeiten, um die natürlichen Schätze der Insel neu zu erschließen.
Begegnungen mit Gesichtern der Inselküche
Wir treffen Salvatore aus Graniti. Er experimentiert mit Meerwasser für den Foodsektor. Sterneköche haben das mineralienreiche Wasser längst als Geschmacksverstärker entdeckt. Viele Seemeilen vor Catania wird es aus der Tiefe gewonnen und aufwändig bearbeitet.
Auch Davide Amore probiert Neues: Er lässt alte sizilianische Weizensorten nachhaltig anbauen und produziert daraus neue Pasta-Spezialitäten. Elvira, eine Art Pionierin bei der Wiederbelebung der vernachlässigten Altstadt von Agrigento, eröffnet dort als Erste ihr Bed and Breakfast. Die antiken Tempel – der eigentliche Touristen Hotspot – und mit ihnen die meisten Hotels liegen weiter außerhalb.
Von Elviras „Mamma“ hat Cettina Vicenzino eine Soße abgeguckt, aus reifen durchpassierten Tomaten gewonnen und in Gläsern konserviert. Traditionell ein Muss in jedem sizilianischen Haushalt! Dazu gehört die Zubereitung des hocharomatischen „strattù“, ein in der Sonne tagelang konzentriertes Tomatenmark.
Kochkultur dank Piatto unico und Cucina povera
Zunächst scheint sich Cettina Vicenzino in ihrem Buch an der klassischen italienischen Menüfolge zu orientieren: Primi, Secondi, … aber – ich bin überrascht – es fehlen die Antipasti! Stattdessen erscheinen „Intermezzi“ und „Piatto unico“. Das klärt die Autorin mit einem Ausflug in Siziliens bewegte Vergangenheit. Mehrgängige Mahlzeiten konnten sich die meisten Sizilianer nicht leisten; bei Fischern und Bauern steht ein „Piatto unico“, ein einziger Teller, auf dem Küchentisch. Hohe Steuern und Abgaben an die Eroberer lassen das Volk verarmen.
Die Ernte landet fast ausschließlich bei den Herrschenden. Üppig genug, damit die adligen Familien eine aufwändige Küche zelebrieren können. Bilder aus Lampedusas Roman „Il gattopardo“ („Der Leopard“) erscheinen vor meinen Augen: endlose Gelage mit opulenten Menüs und überquellenden Schüsseln.
Kochkult aus Frankreich – sizilianisch interpretiert
Französisch Kochen wird zum aristokratischen Kult: Seit der Bourbonenherrschaft im 18. Jahrhundert gehört es beim sizilianischen Adel zum guten Ton. Maria Karolina, damals Königin von Sizilien, soll ihre Köche zum königlichen Hof ihrer Schwester Marie Antoinette nach Paris geschickt haben.
Nach der Rückkehr in ihre Heimat entwickeln die in Frankreich ausgebildeten Köche ihren eigenen Küchenstil: sizilianisch mit einem Hauch Frankreich oder umgekehrt. „Monsù“ werden sie genannt (von französisch „Monsieur“). Noch immer lassen sich in klassischen sizilianischen Rezepten eigenwillige Spuren finden: in der „Cucina dei monsù“. Doch auch ärmere Sizilianer:innen setzen den neuen Trend kreativ um: Die für sie unerschwinglichen Zutaten ersetzen sie durch günstigere.
Gefüllte Sardinen am Spieß © DK Verlag/Cettina Vicenzino
Cettina Vicenzino zeigt, wie einfallsreich die sogenannte Arme-Leute-Küche sein kann: zum Beispiel „Sarde a beccafico“ – ein Gericht, in dem Sardinen eine Vogelspezialität der adeligen Küche „nachahmen“. Oder die „Caponata“. Statt eines Fischgerichts gibt es süßsauren Gemüsetopf in einer vegetarischen Variante.
Geschmackserlebnisse von Artischocke bis Zartbitterschokolade
Nicht zu vergessen die ungewöhnlichen Geschmackserlebnisse. „Cannoli con crema di carciofi“ etwa: Teigröllchen, gefüllt mit einer Creme aus Artischocken, Ricotta und Zartbitterschokolade.
Aus schwierigen, sehr armen Zeiten stammt ein Rezept mit panierten Kaktusfeigenschalen. Die stacheligen Früchte wachsen in Sizilien oft einfach am Straßenrand. Aber keine Angst: Mit einer Fotoreihe zeigt die Autorin, wie man sie schält, ohne gleich im Krankenhaus zu landen.
Streetfood-Kultur von Palermo bis Catania
Besonders neugierig macht mich die Straßenküche in den sizilianischen Städten, die „cibi di strada“. Nach Cettina Vicenzino sind sie das dritte fundamentale Element der sizilianischen Küche.
So zaubern Köche auf den großen Märkten Palermos schon lange Köstlichkeiten „auf die Hand“. Heute werden in jedem Reiseführer „authentische“ Streetfood-Touren angepriesen. Streetfood-Guide Giorgio streift stundenlang mit seinen Gästen über die Märkte: Da werden sicher „la stigghiola“ (gegrillte Innereien) gekostet und die berühmten parlermitanischen „Arancine“ aus Reis – historische Hintergründe zu den multikulturellen und sehr populären Speisen inklusive. Beim Blick auf Cettina Vicenzinos Rezepte klingt die „arme Küche“ (Cucina povera) bei der Zubereitung allerdings ziemlich aufwändig.
Eine Entdeckung in Catania: die typischen Kioske mit frisch gemixten Getränken. Da kann die Sommer-Wohltat: „Seltz Limone e sale“ (Limonen-Salz-Wasser) oder „Latte di mondorla“ (Mandelmilch) – getestet werden, durstlöschend und gesund.
Der süße Kern – Siziliens Dolci
Undenkbar: Sizilien ohne die berühmten Süßigkeiten. Cettina Vicenzinos Weg führt zunächst zu Concetto Scardaci, der bei Noto Mandelbäume anbaut, in einem der größten sizilianischen Anbaugebiete. Von über 700 Sorten werden hauptsächlich 3 geerntet und vermarktet. Eine davon, die „Mandorla di Noto“ ist in die „Arche des Geschmacks“ (Webadresse s. am Artikel-Ende) aufgenommen worden – eine Auszeichnung der Slow Food Stiftung für Biodiversität.
Wir lernen Pasticciere Corrado im Café Sicilia in Noto kennen, inzwischen Netflix-Star, berühmt für „Biancomangiare“ und andere mandelhaltige Verführungen. Oder Maria Grammatica, die ihre Rezepte für Kuchen und Kekse als Waisenkind den Nonnen in Erice abgeguckt hat. Menschen, die trotz ungünstiger Bedingungen mit Ausdauer und Leidenschaft ausgezeichnete Produkte zaubern. Für sie zeigt Cettina Vicenzino großen Respekt.
Biancomangiare: Ricotta-Mandel-Pudding (l.) und Cannoli © DK Verlag/Cettina Vicenzino
Rezept: Biancamangiare
Backfans können sich an Vicenzinos eigenem „Biancomangiare“-Rezept versuchen – oder auch an Cannoli oder Cassata al forno – Köstlichkeiten für fortgeschrittene Bäckerinnen.
Siziliens erfolgreichste Winzerin
Außergewöhnlich ist die Erfolgsgeschichte von Arianna Occhipinti, Siziliens erfolgreichster Winzerin. Seit Jahren schon werden ihre Weine mit dem höchsten italienischen Qualitätssiegel DOCG ausgezeichnet. Mit Anfang 20 hat sie ihren ersten Wein kreiert: in biodynamischem Anbau aus alten sizilianischen Rebsorten, die auf den Bergen von Vittoria in der Provinz Ragusa wachsen – ohne künstliche Bewässerung.
Occhipinti kommt aus einer renommierten Winzerfamilie. Sie beeindruckt mit Produkten aus ihrem eigenen Weinkeller. Internationale Auszeichnungen bestätigen ihre Erfolge. Sie ist ein Aushängeschild für das, was Cettina Vincenzo uns vor allem in diesem Buch zeigen will: das neue Selbstbewusstsein der Sizilianer:innen.
Mein Fazit
Cettina Vincenzos Kochbuch ist kein klassisches Kochbuch: Es ist ein Reisebuch mit Rezepten, das Kochkunst und Kultur verbindet. Auch Vegetarier finden eine reiche Auswahl. Eine Entdeckung für Sizilienliebhaber:innen; ein Buch für Menschen, die sich von den eher unbekannten Seiten der Region überraschen lassen möchten. Vicenzino taucht tief ein in die Geschichte der sizilianischen Esstraditionen und bringt uns Menschen und ihre Lebensumstände näher; Produzentinnen und Produzenten rund um die Insel, die für ihre Produkte brennen.
Mit atmosphärischen Bildern und Rezeptfotos – die Autorin hat sie selbst aufgenommen –, verführt sie zu besonderen Geschmackserlebnissen und ungewohnten Aromen. Etwa mit einer „antiken“ Soße aus Sardellen und Schokolade oder einem Kaktusfeigencocktail. Für Süßmäuler gibt es auf 30 Seiten köstliche Dolci und Gebackenes.
Fotos und Rezepttexte © DK Verlag/Cettina Vicenzino
Buchempfehlung
70 traditionelle und moderne Rezepte. Authentisch sizilianisch kochen. 240 Seiten, DK Verlag (Hrsg.), 2024
Über die Autorin
Cettina Vicenzinos Familie stammt aus der Nähe von Catania, am Fuße des Vulkans Ätna. Aufgewachsen ist sie in Deutschland, wo ihre Eltern ein Restaurant betrieben, in dem sie schon als Kind mithalf. Sie studierte zunächst Modedesign. Mit dem Gestalten von Kochbüchern begann sie bereits vor 15 Jahren. Gleich im ersten Anlauf landete sie einen Bestseller mit „Mamma Maria“, über die sizilianische Küche ihrer Mutter.
Für „ITALIA“ bekam sie als Erstplatzierte den „Gourmand World Cookbook Award“ als bestes italienisches Kochbuch der Welt. Ihr Buch „Toskana in meiner Küche“ wurde beim Deutschen Kochbuchpreis in der Kategorie Italien mit GOLD ausgezeichnet.
Website: www.cettinavicenzino.com
Was noch?
Reiseanleitung im Buchanhang: Ein praktischer Führer für Bestellungen wie für die eigene Sizilienreise ist die Adressenliste von Restaurants, Pasticcerien und Produzent:innen. Sie alle hat Cettina Vicenzino besucht und im Buch vorgestellt.
Arche des Geschmacks ist ein Projekt der Slow Food Stiftung für Biodiversität, die weltweit regional bedeutsame Lebensmittel, Nutztierarten, Kulturpflanzen sowie traditionelle Zubereitungsarten auszeichnet, um sie vor dem Vergessen und Verschwinden zu bewahren.
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