„Nistisima“. Freundinnen und Freunde guten und gesunden Essens aufgepasst! Hinter dem klangvollen Namen verbergen sich über Generationen bewahrte Koch- und Esstraditionen. Georgina Hayden kommt ihnen dank ihrer zypriotischen Familie auf die Spur – und entdeckt kulinarische Schätze. Frappierend nah am – veganen – Zeitgeschmack.
Die Autorin und ihr Buch © Kristin Perers
„Nistisima“? Nie gehört! „Jede:r, – von Ägypten bis nach Osteuropa“ – schreibt die britische Autorin Georgina Hayden – „jede:r aus diesem christlich-orthodox geprägten Kulturkreis weiß, worum es geht, wenn von „Nistisima“ die Rede ist“. Das teste ich! Und tatsächlich: Selbst meine in Deutschland aufgewachsene, gerne und gut kochende und keineswegs religiös angehauchte griechische Freundin weiß es sofort: Nistisima (griechisch) sind Gerichte aus der Fastenküche; orthodoxe Fastenspeisen, mit denen sich Gläubige nach festen Regeln auf die christlich-orthodoxen Feier- und Heiligentage vorbereiten.
Mir dagegen gibt „Nistisima“ zunächst einmal Rätsel auf: Fasten bedeutet für mich das
Gegenteil von Essen und den Verzicht auf beinahe jedes Nahrungsmittel. „Nistisima“ aber schenkt mir 120 Rezepte, ein ganzes Fasten-Kochbuch – ein Widerspruch in sich!?
Verzicht und Genuss - ein schmackhaftes Wechselspiel
Mir fallen eben noch Alkohol-Abstinenz vor Ostern und die geschmacksneutrale Gemüsesuppe für das Heilfasten ein. Doch mit Askese hat Georgina Haydens Buch „Nistisima“ wenig zu tun. Zum Glück. Und wenn, geht es um bewussten Verzicht – und die Wechselwirkung von Verzicht und Genuss.
Für ihre „Nistisima“-Recherche befragt Hayden die jahrhundertealten christlich-orthodoxen Traditionen in den Koch- und Essgewohnheiten ihrer zypriotischen Familie. Ihr Ergebnis liegt im Trend: christlich-orthodoxes Fasten ist vegan. Es schreibt (fast ausschließlich) Mahlzeiten ohne tierische Produkte vor. Und „Nistisima“ liefert allen, die sich ganz oder teilweise vegan ernähren möchten, einen, nein, den perfekten Leitfaden.
Spurensuche in den Weiten der Levante-Küche
Großartig – der Weg, den Georgina Hayden, die in London lebt, vorschlägt. Auf den Spuren ihrer griechisch-zypriotischen Herkunft wandelt sie durch die Weite der Mittelmeer- und Levante-Küche im gesamten südosteuropäischen Raum und im Nahen Osten. Sie sammelt Rezepte und Geschichten von Griechenland über Syrien und den Libanon, vom koptischen Ägypten bis nach Armenien und Russland. Die Autorin hält fest:
„In diesem Buch geht es nicht um Religion. Ich möchte Ihnen nicht vorschreiben, wie Sie beten, Ihr Leben leben oder essen sollen – dieses Buch ist für jeden gedacht.“
Georgina Hayden - Von der Taverne zu Jamie Oliver
Ein (Familien-) Leben rund um die Küche begleitet Georgina Hayden schon ihr ganzes Leben. Sie folgt den kulturellen Traditionen ihrer Großeltern, die aus Zypern nach England ausgewandert sind. Über deren Taverne in Nord-London ist sie aufgewachsen. Größten Respekt zeigt sie für die Kochkünste ihrer Großmütter.
Dank ihnen hat es Hayden schließlich – nach einem Ausflug ins Kunststudium – zur Food-Stylistin im Team von Jamie Oliver gebracht. Heute schreibt sie Koch-Blogs, Zeitungs-Kolumnen und Bücher, tritt regelmäßig in Fernseh-Shows auf. „Nistisima“ ist ihr drittes Kochbuch. Um all die Finessen einer Küche ohne Fleisch und Milchprodukte wie einen Schatz zu bergen, wechselt die bekennende „Fleischfresserin“ jahrelang in den „Gelehrtenmodus“. Forschend, so wie es auch die Grande Dame der Mittelmeerküche Claudia Roden ihr Leben lang gehalten hat.
Fromme Großmütter, religiöse Onkel, Freundinnen, Menschen aus Exilgemeinden, Nonnen und Klosterbrüder, sie alle haben mitgewirkt: „Nistisima“ ist ein Meisterwerk. 2023 gibt es dafür den Deutschen Kochbuchpreis, in der Kategorie der besten Kochbücher für mediterrane Küche, Seite an Seite mit Paola Bacchias – ebenfalls auf azurgold besprochener – Hommage an die adriatische Küche „Istrien“.
Den frommen Großmüttern sei Dank
Levante, Georgien, Libanon: Georginas Rezept-Geschichten führen uns überall dorthin, wo die christlich-orthodoxe Kirche über Jahrhunderte die kulturellen Gewohnheiten geprägt hat. Zu zypriotischem Koulouri-Brot, ägyptischen Ful Medames oder jordanischer Hareesh. Manchmal, wie bei der beliebten Moussaka, zeigt uns Hayden, die eine gute Geschichtenerzählerin ist, den Weg eines typischen Rezepts, um seine unterschiedlichen Versionen vom Nahen Osten bis auf den Balkan nachzuverfolgen.
Ferne Blicke auf das Kloster Athos
Auf die Klosterküche vom griechischen Berg Athos ist Georgina Hayden besonders gespannt. Auch sie darf die Klosterrepublik nicht betreten – das ist seit Jahrhunderten ausschließlich Männern vorbehalten. Als spirituelles Zentrum der christlich-orthodoxen Kirche beeinflussen Klostergemeinschaften wie diese mit ihren Regeln und Traditionen immer noch entscheidend die Orthodoxie in ganz Südost-Europa.
Blick auf den Berg Athos und Kloster Dionysus © Wikimedia, Becar Paprikas - Geschmorte Paprika ©Kristin Perers
Mönche aus Griechenland, Rumänien, Georgien, Mazedonien, Serbien und Russland leben auf Athos. Pater Theonas vom Kloster Vatopedis ist bereit, Haydens Fragen zu Rezepten und orthodoxen Regeln zu beantworten. Und ein Credo der Mönche wird verraten:
Lange Garzeiten als Schlüssel zum intensiven Geschmackserlebnis – „auch am Ende des Kochvorgangs Geduld und Ausdauer“!
Orthodoxer Mönch im Innenhof des Kloster Vatopedis auf dem Athos-Berg © Wikimedia
Kochen mit Andacht, Geduld und Respekt
Überhaupt: Ein langer Atem beim Kochen, sich Zeit nehmen, die Küchenarbeit quasi als Meditation begreifen. Ob libanesisches Siebengewürz oder Brotteig – alles wird geduldig selbst zusammengemischt, gerührt und geknetet. Da brauchen die Fasoles, die weißen Bohnen, schon mal Stunden, bis sie mit dem Gemüse gemeinsam gegart werden. Damit es „nicht nur gut, sondern grandios wird“, kann das schon einmal eine ganze Nacht dauern: für die richtige Intensität des Aromas.
Ob ich allerdings Haydens Ratschlag folgen möchte, die Basis für frisch gefüllte Weinblätter vom eigenen Rebstock auf dem Balkon zu ernten? Hayden dagegen lässt sich von zeitgemäßen Varianten inspirieren. Jedes einzelne Gericht ihrer Sammlung testet sie, wieder und wieder. Das hat sie aus der jahrelangen Zusammenarbeit mit Jamie Oliver mitgenommen. Alle Rezepte im Buch sollen funktionieren, auch bei weniger geübten Leser:innen.
Georgina Hayden erleichtert, wo sie kann, den Einstieg in die Mittelmeer- und Levante-Küche, erklärt einige typische Zutaten und Gewürze und sie verrät, wo sie ggf. zu beziehen sind. Zu eventuell ungewohnten Back- und Kochtechniken wie Brotteig kneten oder Tomaten häuten gibt sie in „Nistisima“ immer wieder Hinweise.
Tragende Rolle in der Levante-Küche: Hülsenfrüchte
Hülsenfrüchte – etwa für die ägyptischen Frühstücksbohnen – die Allerwelts-Zutaten aus der Vorratskammer, ernten Haydens ganze Aufmerksamkeit. Die Aromen schlichter Genüsse durchziehen „Nistisima“ und überraschen mit ungewöhnlichen Kombinationen. Etwa bei der libanesischen Linsensuppe „Rishta“, einer von Georgina Haydens Favoriten im ganzen Buch.
Hülsenfrüchte: Linsensuppe mit Nudeln und Augenbohnen mit Mangold und Zitrone © Kristin Perers
Aus Kichererbsen, Linsen, Bohnen oder Getreide zaubert die Autorin mit Gewürzen, Kräutern, Gemüse oder Nüssen wunderbar einfache und schmackhafte Gerichte. So behaupten sich selbst Bohnenfalaffel und Linsenköfte auf einer feinen Tafel.
Süße Verführung – streng verboten?
Auf den süßen Nachmittagskick „glyko“ mag kaum jemand im östlichen Mittelmeerraum der Levante verzichten. Hayden hat ein Familienrezept zur Hand: Halwa aus Mandeldrink mit Gewürzen und geröstetem Hartweizengries. Bei besonderen Gelegenheiten ist das schon mal drin – schließlich beinahe überlebenswichtig bei heißen Temperaturen und anstrengenden Fastentagen.
Es geht auch wesentlich aufwändiger: mit den Aprikosenhörnchen Pivcici oder mit Shiamishi, frittierten Teigtäschchen mit Orangenblütencreme. Dieses Gebäck, das traditionell auf Zypern zu Kirchweih-Festen gereicht wird, verführt mit Orangenblüten- und Rosenwassersirup. Durch praktische Fotos unterstützt – es sieht so wunderbar appetitlich und knusprig aus – können sich Mutige testen. Es braucht eine gewisse meditative Demut. Da muss zu Ehren der Kirchenheiligen Durchhaltevermögen her!
Mein Fazit
„Nistisima“ ist ein Kochbuch für Menschen, die Fasten als Möglichkeit
sehen, sich durch Beschränkung größere Klarheit zu verschaffen. Ein Kochbuch für
Menschen, die vegane Ernährung als Alternative ausprobieren wollen oder auch für
Neugierige, die öfter und abwechslungsreicher Gemüse essen möchten. Und einfach für alle Fans von gesundem Essen mit viel Gemüse – und Hülsenfrüchten. Nützlich ist sicher auch zu erfahren, wie Hayden, selbst berufstätige Mutter, sich für das
zeitaufwändigere Kochen zu Hause organisiert.
Buchempfehlung
Georgina Hayden: Nistisima. Traditionell, mediterran, vegan. 120 vegane Rezepte aus dem Mittelmeerraum, dem Nahen Osten und Osteuropa. 304 Seiten. DK Verlag Dorling Kindersley
Website der Autorin Georgina Hayden
Im Juli 2024 erscheint Haydens nächstes Kochbuch: Greekish
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