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Lost Places in Deutschland: Architekturfotografie von Beelitz Heilstätten bis Wünsdorf

  • Autorenbild: Felicitas
    Felicitas
  • 17. Mai
  • 5 Min. Lesezeit

Es gibt Orte im Nirgendwo. Unzugänglich und öffentlich kaum wahrnehmbar, einst Industriegebäude, Hotel oder Hospital. Der Bildband „Lost Places Deutschland“ erzählt Geschichten mit beeindruckenden Fotografien von Aurélien Villette über Orte wie Wünsdorf und Beelitz Heilstätten. Eine Buchempfehlung.

Einblick ins VEB-Kraftwerk Sachsen
Einblick ins VEB-Kraftwerk Sachsen © Aurélien Villette

Ein Buch für Freunde besonderer Orte und Fotografie

Im Bildband „Lost Places Deutschland“ verspricht der Jonglez Verlag Begegnungen mit den besten 65 verlassenen Orte Deutschlands. Um diese überwiegend öffentlichen Orte aufzuspüren, hat der Fotograf Aurélien Villette mehrere Reisen unternommen. Alle vorgestellten Lost Places liegen in Deutschland, im Westen wie im Osten. Sie stammen aus der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Und zeugen von Veränderungen, die Deutschland im 20. Jahrhundert so nachhaltig geprägt haben.


Welcher Ära sie auch entstammen, besseren Zeiten oder dem Nationalsozialismus, der kommunistischen DDR-Diktatur oder der Zeit nach dem Mauerfall. Alle lassen sich unter einem Begriff versammeln; alle Fotografien zeigen: Ruinen. Darunter finden sich ein dem Verfall preisgegebener opulenter Ballsaal in einem ehemaligen Luxushotel, mittendrin ein paar verwaiste Stühle oder verwaiste stehengebliebene Häuserwände mit sozialistischen Wandbildern und verstaubte Kinosessel inmitten eines abgerissenen Gebäudes oder Treppenstufen, übersät mit abbröckelndem Putz in einem ehemaligen Nazi-Militärgebäude – allesamt Bilder, die ein Karussell an Assoziationen anregen.


Aurélien Villettes Aufnahmen machen historische Zäsuren sichtbar. Sie zeigen verlassene Bauwerke voller Brüche, über die die Zeit hinweggegangen ist. An Orten, von denen es immer weniger gibt – dem Verfall preisgegeben. Der Fotograf stellt Orte vor, die ihrem Schicksal mehr oder weniger überlassen werden. Alle sind menschenleer, geben gerade deshalb reichlich Raum für eigene Assoziationen. Es fällt nicht schwer, sich an diesen Schauplätzen Menschen vorzustellen, tanzend im Ballsaal oder turnend in der Kader-Sportschule. Wer wohl zuletzt hier war?


Der Künstler kann sich ganz auf die Kraft der Fotografie verlassen. Er zeichnet ein eindrückliches Porträt eines gestrigen wie heutigen Deutschlands. „Lost Places Deutschland“ erzählt faszinierende Bildergeschichten. Sie handeln von der Geschichte des Ortes wie von der deutschen Geschichte. Ihnen liegen Strukturen zugrunde, in denen sich Schichten und Merkmale aus zwei oder mehr unterschiedlichen Zeitebenen überlagern. Wie etwa in der Papierfabrik im Bergischen Land, die ab 1898 Tapeten herstellte und sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Herstellung von Zementsäcken spezialisierte – bis 1970 die Produktion eingestellt wurde.


Die Lost Places Bewegung

Lost Places-Fotografie, auch Urbex-Fotografie genannt, ist ein Genre, das die Tristesse, verblasste Schönheit und das Geheimnis verlassener Gebäude einfängt, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Sie hat sich gegenüber dem schwindenden Zugang zu verlassenen Baustrukturen positioniert. Ob diese Orte – wie die meisten – abgesperrt sind oder nicht, es gilt sie zu schützen: „Die Standorte der Lost Places veröffentlichen wir in der Regel nicht, um sie vor Vandalismus und Schrottdieben zu bewahren …“, heißt es auf einer der vielen Websites, die verlassene Orte vorstellen oder seltene Möglichkeiten aufzeigen, sie zu besichtigen.


Die Magie der Lost Places motiviert Fotografen aus der ganzen Welt. Sie gehen auf Reisen, um ihre morbide Schönheit oder ihre Schrecken künstlerisch zu ergründen und ihre Existenz zu dokumentieren. So tragen sie dazu bei, sie vor dem Vergessen für das kollektive Bewusstsein zu bewahren, bevor die Orte nicht nur verlassen, sondern auch zerstört, permanent abgeriegelt oder saniert werden.


Der Fotograf Aurélien Villette

Der eigentliche Star dieses Bildbands ist die Fotografie. Der Mastermind dahinter: Aurélien Villette. Seine Vita, seine Berufung, sein Werk laden ein, sich tiefer mit „architektonischen Palimpsesten“ zu beschäftigen. So umschreibt Villette, 1982 nahe Paris geboren, sein Faszinosum: Ruinen. Wie ein Leitmotiv durchziehen sie seine künstlerischen Arbeiten und seine über 45 Reisen durch die Welt. Dem Franzosen gelten Ruinen als Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der Menschheit und unseres Kulturerbes:


„Warum wurden diese Orte aufgegeben? Sollten wir sie bewahren? Sind sie Zeugnisse menschlichen Scheiterns oder repräsentieren sie vielmehr ein Übergangsstadium in unserer Geschichte? Und wichtiger noch: Was lehrt uns der Blick in die Vergangenheit über unsere Gegenwart?“

Mit diesen Fragen rückt Aurélien Villette (s)einer Erkenntnis näher:


„Was wir beschließen, aufzugeben, ist Teil dessen, was wir sind – es stellt ein entscheidendes Wesensmerkmal unserer kollektiven Identität dar.“

Von Beelitz Heilstätten bis Wünsdorf: Beispiele beeindruckender „Lost Places“ in Deutschland

Im Folgenden stelle ich Dir eine Auswahl aus den 65 vorgestellten Orten vor, von denen nur wenige, so wie Wünsdorf und die Beelitzer Heilstätten, besichtigt werden können.


  • Flugschule in einem ehemaligen Militärlager / Brandenburg

    Irgendwo in Brandenburg hat die Luftwaffe 1933 einen Stützpunkt eingerichtet, der später den Namen „Fliegertechnische Schule der Luftflotte 1“ erhielt. Heute steht das Gebäude unter Denkmalschutz und zeigt eine für die Nazizeit typische Bauweise. Zu sehen sind Relikte eines vom SED-Staat angeordneten Kunstverständnisses.


Ein Wandgemälde mit Berliner und Moskauer Denkmälern im ehemaligen Militärlager
Ein Wandgemälde mit Berliner und Moskauer Denkmälern gibt den sozialistischen Realismus wieder (2013). © Aurélien Villette
  • Wünsdorf / Brandenburg, Hauptquartier des Oberkommandos des Heeres im Zweiten Weltkrieg

    Wünsdorf beherbergte im Zweiten Weltkrieg den Hauptsitz des Oberkommandos des Heeres und von 1945 bis 1994 das Hauptquartier der Roten Armee in Deutschland. Danach baute die Stadt einige der Gebäude zu Wohnungen um. Viele andere wurden abgerissen, einige stehen unter Denkmalschutz.


Anbau aus sowjetischer Besatzungszeit (l) und ein erhalten gebliebenes Treppenhaus mit Eisengeländer (2016) © Aurélien Villette


  • Ehemalige Hotels in Thüringen und Sachsen

    Ein 1902 in Thüringen erbautes Luxushotel (Bild links) hat den Glamour weit hinter sich gelassen. Nach der Schließung 1996 zog morbider Charme Platz ein, wie etwa im Ballsaal (Foto: 2016). Wie eine Spirale windet sich ein edles Treppengeländer aus Messing durch die Stockwerke in einem anderen Hotel in Sachsen mit einem ähnlichem Schicksal.


Morbider Charme statt Glamour in einstigen Luxushotels © Aurélien Villette


  • Victoria Barracks, Werl in Nordrhein-Westfalen

    Standort „Victoria Barracks“: 2018 wurden die Gebäude der von 1956 bis 1970 von kanadischen Streitkräften genutzten Kaserne – danach übernahmen die Briten das Gelände – samt ihrer Infrastruktur abgerissen. Neben zwei Kirchen gab es auch das Globe-Kino (Foto: 2012), nun nur noch auf dem Foto zu betrachten.


Sitzreihen in einem ehemaligen Kinosaal mit eingerissenen Wänden
Existiert nur noch auf Fotos: das einstige Globe-Kino in den 2018 vollständig abgerissenen Victoria Barracks © Aurélien Villette

  • SED-Parteischule Ballenstedt / Sachsen-Anhalt

    Die Parteischule in Ballenstedt (Foto: 2013), galt – nach Berlins Parteihochschule „Karl Marx“ – in der DDR als zweitgrößte Kaderschmiede der Staatspartei. Hier wurden in 33 Jahren mehr als 16.000 SED-Parteimitglieder zu potenziellen Führungskräften ausgebildet.


  • Beelitz Heilstätten / Brandenburg (mehr Informationen s. Anhang)


Blick auf die Sitzreihen im menschenleeren Konferenzsaal der SED-Parteischule in Ballenstedt
Konferenzsaal der SED-Parteischule in Ballenstedt © Aurélien Villette

Hochwertige Fotografien und Aufbau: ein Blick ins Buch „Lost Places Deutschland“

Die rein auf die Fotografien ausgerichtete Buchgestaltung „Lost Places Deutschland“ unterstreicht deren hervorragende Qualität und lässt die Bilder unbeeinträchtigt von anderen Reizen sprechen. Der Text reduziert sich auf kurze Bildunterschriften, die Ort, Standort, Jahr der Fotoaufnahme und einen Seitenverweis auf den Anhang umfassen. Ein nur zehnseitiger Anhang liefert „Bildunterschriften“ für die rund 200-seitige Lost Places-Fotostrecke, die die Geschichte des Ortes kurz skizzieren. Dem Bild gilt absolute Priorität. Den perfekten Bucheinstieg liefert ein informatives Vorwort und steckt den Rahmen für das Buchprojekt ab, begleitet durch erste Fotografien eines sächsischen Ballsaals, eines Leipziger Gasometers und eines Dresdener Sanatoriums.


Mein Fazit

Aurélien Villette entführt uns zu entlegenen oft nicht öffentlich zugänglichen Orten. Sein Bildband „Lost Places Deutschland“ spricht Nostalgiker, Fotografiebegeisterte, Geschichtsinteressierte und Abenteurer an und beeindruckt durch exzellente Fotografien. Villettes Aufnahmen strahlen Ruhe, Exklusivität und etwas Geheimnisvolles aus. Sie vermögen eine Atmosphäre zu vermitteln, die so eindringlich ist, dass sie ein intensiveres Erleben herstellen als dies vor Ort möglich wäre.


Das Cover vom Fotoband Lost Places Deutschland

Buchempfehlung


Über den Autor


Beelitz Heilstätten

Ein besonders lohnender Lost Place und Besuchermagnet sind die Heilstätten in Beelitz, wo vor über 100 Jahren die Tuberkulose behandelt wurde. Das mit 60 Gebäuden besonders große ehemalige Sanatorium gilt als bekanntester Lost Places-Ort Deutschlands. Ab dem Ersten Weltkrieg wurde es zum Militärhospital und nach 1945 von der Roten Armee als größtes Militärhospital Europas genutzt. 50 Kilometer südwestlich von Berlin gelegen, ist es bequem mit dem Regionalexpress direkt erreichbar und kann über Touren besichtigt werden. Wer möchte, kann sich den Gebäudekomplex zu Füßen legen und von einem Baumwipfelpfad aus geniessen (Video).

 



 
 
 

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